Christus der Vollender des Judentums?
Ganz allgemein, ja, vielleicht ohne Ausnahme, wird das Verhältnis so dargestellt, als sei Christus der Vollender des Judentums, das heißt also, der religiösen Ideen der Juden. Selbst die orthodoxen Juden, wenn sie in ihm auch nicht gerade den Vollender verehren können, sehen doch in ihm einen Seitenast an ihrem Baume und betrachten mit Stolz das ganze Christentum als einen Anhang des Judentums. Das ist ein Irrtum, dessen bin ich tief überzeugt; es ist eine angeerbte Wahnvorstellung, eine von den Meinungen, die wir mit der Muttermilch einsaugen und über die in Folge dessen der Freidenkende ebenso wenig zur Besinnung kommt, wie der orthodox kirchlich Gesinnte. Gewiss stand Christus in einem unmittelbaren Verhältnis zum Judentum, und der Einfluss des Judentums, zunächst auf die Gestaltung seiner Persönlichkeit, in noch weit höherem Masse auf die Entstehung und die Geschichte des Christentums ist ein so grosser, bestimmter und wesentlicher, dass jeder Versuch, ihn abzuleugnen, zu Widersinnigkeiten führen müsste; dieser Einfluss ist jedoch nur zum kleinsten Teile ein religiöser. Da liegt des Irrtums Kern. Wir sind gewohnt, das jüdische Volk als das religiöse Volk par excellence zu betrachten: in Wahrheit ist es ein (im Verhältnis zu den indoeuropäischen Rassen) religiös durchaus verkümmertes. In dieser Beziehung hat bei den Juden das stattgefunden, was Darwin "arrest of development" nennt, eine Verkümmerung der Anlagen, ein Absterben in der Knospe.
H. S. Chamberlain